Seit mehr als einem halben Jahr hält ein Virus namens SARS-CoV-2 die ganze Welt in Atem. Täglich werden Studien rund um den Coronavirus veröffentlicht, aus denen neue Erkenntnisse etwa hinsichtlich Übertragung, Krankheitsverlauf und Schutzmaßnahmen hervorgehen. Wer wissen möchte, wie das Virus (vermutlich) aussieht, sollte der „Coronavirus Structural Task Force“ einen Besuch abstatten.
Vielleicht ging es vielen dt-Lesern vor ein paar Wochen ähnlich: gerade zu Anfang der Pandemie hatte ich das große Bedürfnis, Informationen zum Virus nicht nur in Form von Texten, Zahlen und Diagrammen zu erhalten, ich wollte auch sehen wie SARS-CoV-2 aussieht. Anfänglich kursierten in den Medien viele unterschiedliche Darstellungen des Virus, was fatalerweise den Eindruck verstärkt hat, dass diesem Virus schwer beizukommen ist. Die von der US-Seuchenschutzbehörde CDC veröffentlichte von Alissa Eckert und Dan Higgins erstellte Illustration dürfte mittlerweile die meistÂverÂbreiÂtetste Darstellung weltweit sein. Aber selbst diese hochauflösende, mit 27 MB beeindruckend große 3D-Grafik vermag nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Visualisierung bestenfalls eine Annäherung an die Realität darstellt. Ob der Virus rote dreieckige Stacheln (Spikes) hat, ist bislang nicht erwiesen. Wie so vieles derzeit.
Die „Coronavirus Structural Task Force“, hervorgegangen aus einer Arbeitsgruppe an der Uni Würzburg, hat sich in den vergangenen Wochen intensiv mit der Frage nach der Beschaffenheit und dem Aussehen des Coronavirus beschäftigt. Ein 14-köpfiges Team rund um Strukturbiologin Dr. Andrea Thorn als Hauptkoordinatorin hat sich die Verbesserung der Strukturen dreidimensionaler Koordinaten zum Ziel gesetzt, um so bestmögliche Voraussetzungen für die Entwicklung von Arzneimitteln zu liefern. Auf der kürzlich gelaunchten Website insidecorona.net ist das vorläufige Ergebnis der Arbeitsgruppe einsehbar. Eine der Erkenntnisse des interdisziplinären Forschungsteams ist etwa, wie Thorn im Beitrag „Wie sieht das Coronavirus aus?“ erläutert, dass die Form des Virus nicht rund, sondern eher „wobbelig“ sei. Und auch sonst gibt es zahlreiche Merkmale, die die vor wenigen Tagen veröffentlichte Darstellung der Coronavirus Structural Task Force von der CDC-Illustration unterscheiden (siehe Abb. oben).
Das zweisprachige digitale Angebot der Coronavirus Structural Task Force richtet sich sowohl an Wissenschaftler wie an Interessierte/Laien. Letztgenannte Gruppe findet Texte in leicht verständlicher Sprache vor, mit denen das ansonsten Unfassbare sehr anschaulich vermittelt wird. Zu sehen, was für das menschliche Auge unsichtbar ist, hilft uns enorm zu verstehen. Darüber hinaus hat das Forschungsteam eine Anleitung zur Erstellung eines Modells bereitgestellt, mit der das Virus, einen eigenen 3D-Drucker vorausgesetzt, vollends greifbar wird. Das Informationsangebot im Themenfeld der Bioinformatik schließt wie ich meine eine Lücke, die seit Beginn der Pandemie besteht. Deshalb möchte ich die Website gerne mit meiner Leserschaft teilen.
Update 19.01.2021: Wissenschaftlern der Firma Nanographics, einem Spin-off der Technischen Universität Wien, ist es gelungen eine fotografische Abbildung des Virus zu erstellen. Das Ergebnis wird unter anderem in einem Video vorgestellt:
Es gibt nicht umsonst das Spezialgebiet der wissenschaftlichen bzw. medizinischen Illustration/Animation. Dieser Satz bringt die grundlegende Herausforderung dieser Disziplin gut auf den Punkt:
“Aber selbst diese […] 3D-Grafik vermag nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Visualisierung bestenfalls eine Annäherung an die Realität darstellt. Ob der Virus rote dreieckige Stacheln (Spikes) hat, ist bislang nicht erwiesen.”
Jede dieser Visualisierungen kann nur eine mit Kompromissen behaftete Annäherung sein. Viren sind so klein, dass sie mit einem Elektronenmikroskop abgebildet werden müssen. Die Wellenlänge des sichtbaren Lichts reicht dafür nicht aus. Deswegen gibt es in diesen Größenordnungen keine “Farbe”. Das Sars-CoV2 Virus hat mit Sicherheit diese Stacheln. Das Farbschema kann sich dabei jeder selber aussuchen.
Vielleicht interessant: David Goodsell hat eine ganz andere Herangehensweise
https://pdb101.rcsb.org/sci-art/goodsell-gallery/coronavirus
War jetzt längere Zeit nicht mehr auf der Seite vom dt.
Sehr spannend, auch zu diesem Thema etwas hier zu lesen und auch ein sehr richtiger Kommentar von C. Kühne.
Allgemein finde ich interessant, wie Objekte im Mikrokosmos visualisiert werden, insbesondere die Darstellungen von Atomen oder Molekülen, egal ob nur schematisch in einem Schulbuch oder aufwendig animiert, um TV- und Kinoansprüchen zu genügen. Diese Darstellungen sind -immer- falsch. Atome sind keine massigen Kugeln mit farbigen, strukturierten Schalen.
Auch bei der Darstellung des Virus bewegen wir uns schon in einem “Zoom”-Bereich, wo einzelne Atome ‘sichtbar’ werden. Da Atome in Wirklichkeit nur aus dem winzigen Kern, den Elektronenorbitalen und ansonsten viel Vakuum bestehen, müsste das Virus korrekterweise eine deutlich luftigere, dünnhäutigere Masse vorweisen.
Nirgendswo sonst wird eigentlich so deutlich, dass Naturwissenschaften gar nicht den Anspruch haben, die Realität abzubilden, sondern lediglich versuchen, Modelle zu entwickeln, die die Sache für uns begreifbar machen und erlauben, die weltlichen Prozesse zu erkennen, vorherzusagen und für eigene Zwecke zu steuern.
Auch hier geht es schlussendlich lediglich darum, ein ‘besseres’ Modell zu entwickeln, dass ein erwünschtes, steuerndes Eingreifen möglich macht.