Form Follows Function – Ein allzu oft missverstandener Gestaltungsleitsatz
Nur wenige Phrasen, die einem als Designer während eines Berufslebens über den Weg laufen, sind inhaltlich so aufgeladen und dabei gleichzeitig so unscharf wie der Ausdruck: „Form Follows Function“. Wie ein Schwamm scheint er alles in sich aufzunehmen, um es auf Verlangen auch wieder von sich zu geben. Was steckt hinter „Form Follows Function“? Spielt dieser Gestaltungsleitsatz, der erstmalig im 19. Jahrhundert aufkam, heutzutage überhaupt noch eine Rolle? Ist FFF überhaupt ein Gestaltungsleitsatz oder doch viel mehr, da sprachlich die Form einer Funktion „folgt“, sich ihr also unterordnen muss, gar Ausdruck einer Geringschätzung von Design?
Diesen und weiteren Fragen will ich einmal nachgehen. Ausführlich werden hierzu auch namhafte Kreative aus der Designbranche zu Wort kommen und ihre Einstellung und Haltung gegenüber Form Follows Function offen legen. Was heutzutage fehlt, so zumindest mein Eindruck, ist ein Austausch über die Sinnhaftigkeit dieser Formel und eine Einstufung einer über 100 Jahre alten Redewendung in die heutige Zeit.
Ursprung – Louis Sullivan
Der Ausdruck „Form Follows Function“ geht auf den us-amerikanischen Architekten Louis Sullivan zurück, der als „Vater der Hochhäuser“ bezeichnet wird und Ende des 19. Jahrhunderts großen Einfluss auf die damalige Architektur in den Staaten ausübte. Zwar wurde er nicht so berühmt wie etwa der in Europa nachfolgende Le Corbursier, dennoch galt er ebenso als Modernisierer. Er gehörte zur Prairie School, einer Architekten-Gruppe, die erstmalig den Versuch unternahm, einen spezifisch nordamerikanischen Stil zu etablieren, um mit der bis dato vorherrschenden Ästhetik europäischer Architektur zu brechen. Von Sullivan stammt das Zitat: „Es ist das Gesetz aller organischen und anorganischen, aller physischen und metaphysischen, aller menschlichen und übermenschlichen Dinge, aller echten Manifestationen des Kopfes, des Herzens und der Seele, dass das Leben in seinem Ausdruck erkennbar ist, dass die Form immer der Funktion folgt.“
Für all diejenigen, die FFF bislang mit dem Verzicht auf Schmuck und Ornamente in Verbindung gebracht haben, dürfte überraschend sein, dass die Ornamentik in Sullivans Werken einen großen Platz einnimmt. Die Fassade des von ihm 1894 fertig gestellten Prudential Building ist überaus üppig und reich verziert (siehe Abbildung oben). Mit Blick auf sein Gesamtwerk lässt sich sogar sagen, dass diese Art der Verzierung typisch für Sullivans Arbeit war. Die Nähe zu der zur gleichen Zeit populären Arts and Crafts Bewegung ist deutlich sichtbar, was, wenn man sich Sullivans Zitat vor Augen hält, auch kaum verwunderlich erscheint. Ebenso wie das aufgestellte, reich verzierte Federrad eines Pfaus diesem zu mehr Größe und Stärke verhelfen soll, symbolisiert eine reich verzierte Fassade etwa einer Bank die nach Außen getragene Stärke des Instituts. Die Form des Federrads folgt dabei der Funktion, Eindruck schinden zu wollen. Das Gleiche lässt sich, folgt man Sullivan, auch auf die Architektur übertragen, in der ein Torbogen, eine Kuppe oder eine Hausfront deshalb besonders reich verziert und schmuckvoll gearbeitet sind, weil diese der Funktion folgen, einen repräsentativen Eindruck der Bank zu vermitteln. Eine Verquickung zwischen FFF und einer Ästhetik, die jegliche Form von Schmuckwerk verneint, gibt es zumindest bei Sullivan nicht.
Über Adolf Loos, den Deutschen Werkbund hin zum Bauhaus
Wesentlich näher, an der weit verbreiteten Interpretation von FFF, jegliches Schmuckwerk sei zu vermeiden, ist da schon die von Adolf Loos im Jahre 1908 verfasste Streitschrift: „Ornament und Verbrechen“, in der er Funktionalität und die Abwesenheit von Ornamenten im Sinne menschlicher Kraftersparnis als Zeichen hoher Kulturentwicklung interpretiert. Wie Sullivan gilt Loos als einer der Pioniere der Moderne, anders jedoch als der Amerikaner, vollzog Loos in seinem Werk die Abkehr vom floralen Dekor. Seiner Auffassung nach sei die Verschmelzung von Kunsthandwerk und Gebrauchsgegenstand unangemessen und überflüssig.
„Die gute Form“
Bereits einige Jahre zuvor bekundete schon Hermann Muthesius, Mitbegründer des Deutschen Werkbundes, seine Abneigung vor allem gegenüber dem damals weit verbreiteten Jugendstil. 1902 titulierte er in seiner Streitschrift „Stilarchitektur und Baukunst“ Jugendstil als Modeerscheinung. Er propagierte gewissermaßen das Gegenmodell hierzu, einen sachlichen, aus den Funktionen und dem komfortablen Gebrauch heraus bedingten Ansatz. Der Deutsche Werkbund als Vereinigung von Künstlern, Architekten, Unternehmern und Sachverständigen bekämpfte von je her „Schund und Talmi“ und trat für die „gute, sachlich geprägte Form ein: Vom Gerät bis zur Stadt“, so ein Leitmotiv des Werkbundes.
Wie Loos und Muthesius verschrieb sich auch Walter Gropius, der in Weimar 1919 das Staatliche Bauhaus gründete, dem Funktionalismus und der Neuen Sachlichkeit. In der Sache vereint, die Funktion in den Mittelpunkt zu stellen, gab es zwischen Loos auf der einen Seite und Muthesius und Gropius auf der anderen, in Bezug auf die Auslegung unüberbrückbare Gegensätze. Loos kritisierte seinerzeit, auch eine überdimensionierte Glasfassade (Foto), wie sie so typisch für die Bauhaus-Architektur ist, sei eine Art Ornament und ohne praktischen Nutzen. Aus heutiger Perspektive lässt sich sagen, dass der Bauhaus-Stil zunächst ästhetischen Aspekten folgte und erst in zweiter Linie den rein funktionalen Kriterien gerecht wurde, wie sie etwa auch in dem Leitsatz „Form Follows Function“ ihren Ausdruck finden. Wenngleich Gropius stets die Offenheit der Bauhaus-Idee betonte, unternahmen er und einige seiner Kollegen den Versuch – bewusste oder unbewusst –, den Menschen zu erziehen, hin zu der „guten Form“ – ein Ansatz, der durchaus auch dogmatische Züge aufwies.
Vom Bauhaus hin zur HfG Ulm
Das Flachdach stand seinerzeit für Avantgarde, gleichermaßen auch für nasse Räume. Aus der Funktion heraus begründen lässt sich das Flachdach in etwa ebenso wenig wie im Automobilbereich SUVs. Da jede Funktion mehr als nur eine Form annehmen kann, lässt sich nur ganz selten aus der Funktion heraus eine Form erklären. Ohren von Elefanten und Wüstenfüchsen, um einmal Sullivans von der Natur sich ableitendes Prinzip aufzunehmen, sind deshalb besonders groß, da sich in diesem Fall möglichst große Flächen als die effektivste Form herausgestellt haben. Die Form der Ohren folgt der Anforderung bzw. der Funktion, den Körper bei sengender Hitze durch Kühlung des Blutkreislaufs am Leben zu erhalten. Die Natur denkt sich etwas dabei, Apple-Designer sicherlich auch. Warum aber ein iPod nano wie eine 4 mal 4 Zentimeter große Briefmarke aussieht, lässt sich aus der Funktion heraus, Musik zu speichern und wiederzugeben, nicht erklären, schon eher mit der Anforderung, das Gerät beim Joggen mitnehmen zu können. Ebenso wenig, wie es nur eine Funktion gibt, kann es nur eine Form geben. Parfumflakons sind hierfür ein weiteres gutes Beispiel. Aber noch einmal zurück zum Bauhaus.
Der Schweizer Architekt und Designer Max Bill, der gemeinsam mit Otl Aicher und Inge Scholl die Hochschule für Gestaltung Ulm gründete, führte die im Bauhaus verankerten Gestaltungsprinzipien weiter. In seinem 1957 veröffentlichten Buch: „Die gute Form“ wird Bills Motivation und Ziel deutlich, maximale Wirkung mit einem Minimum an Materie zu erzielen, wie sie sich in dem von ihm und Hans Gugelot 1954 entworfenen Ulmer-Hocker ausdrücken. Als er 1949 die Schönheit selbst zur Funktion erhob, brach er mit der Tradition des Deutschen und des Schweizerischen Werkbundes. Seiner Ansicht nach sollte man das, was den Menschen umgibt, ästhetisch verbessern, dann fühle sich auch der Mensch besser. Anders als viele andere Künstler hat bei Max Bill nicht die Innensicht seine Arbeit bestimmt, sondern die Sicht auf andere Menschen, die sich etwa in einem Raum, einem Gebäude wohlfühlen sollen. Vielleicht konnte Bill dies deshalb besser als andere, weil er in jungen Jahren als Gebrauchsgrafiker gearbeitet hatte und somit in der Lage war, sich in den Dienst einer Sache zu stellen.
„Opas Funktionalismus ist tot“
Auch wenn die Protagonisten der Funktionalismus-Ära vorgaben, rein ästhetische Gestaltungsprinzipien hintenanzustellen, um stattdessen konsequent die Form von der Funktion abzuleiten, muss man heute attestieren, dass weder die Architektur noch das Design zur damaligen Zeit konsequent an den Bedürfnissen des Menschen ausgerichtet wurden. Erst viel später im Nachkriegsdeutschland wurde genau dies kritisiert. Für einen erweiterten Funktionalismusbegriff sprach sich unter anderem Gerda Müller-Krauspe aus, HfG Ulm-Absolventin und Produktgestalterin. Unter dem Titel „Opas Funktionalismus ist tot“ warb sie Ende der Sechziger als freie Autorin für die Zeitschrift form, möglichst viele produktbestimmende Faktoren ausfindig zu machen und diese im Entwurfsprozess zu berücksichtigen, womit sie wohl auch die Ansicht vieler ihrer Designerkollegen Ende der sechziger Jahre vertrat.