Skip to content

Rebranding Tschernobyl – aus dem Ort der Nuklearkatastrophe wird eine Tourismusmarke

Tschernobyl Tourism Logo
Tschernobyl Tourism Logo, Quelle: Banda

Tschernobyl Tourism Logo

35 Jahre sind vergangen, seitdem im Kernkraftwerk in Tschernobyl ein Reaktor-Block explodierte und es in Folge dessen zur Nuklearkatastrophe gekommen ist. Mittlerweile besuchen von Jahr zu Jahr mehr Menschen die Sperrzone rund um das AKW und die Geisterstadt Pripyat. Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung vorerst gestoppt. Mit Hilfe eines neuen Logos/Markenauftritts will die ukrainische Regierung dem Ort der Katastrophe Leben einhauchen.

Bereits seit 2011 gestattet die ukrainische Regierung Touristen die 4.300 km² große Sperrzone rund um das ehemalige Kernkraftwerk zu besuchen. Anfänglich waren es nur wenige Menschen, die Gefallen daran fanden, zwischen den Ruinen von Pripyat herumzulaufen. Auch wenn die Radioaktivität vor Ort zurückgeht, bedeutet das Aussetzen ungeschützter Haut in dem verstrahlten Gebiet ein Risiko. Die radioaktive Kontamination von Luft, Wasser und Erde verhindert nach wie vor, dass Menschen hier dauerhaft leben können. Zeitlich begrenzte Besuche im Rahmen von geführten Touren seien hingegen unbedenklich, beteuert die ukrainische Tourismusbehörde. Die Strahlenbelastung während eines ganzen Tages in der Zone entspräche einem einstündigen Flug in einem Passagierflugzeug und sei 3000-mal geringer als eine Computertomographie.

Bären, Bisons, Wölfe, Luchse und Wildpferde sind bereits in die Sperrzone zurückgekehrt, was manch Wissenschaftler dazu veranlasst, die Sperrzone gar als Tierparadies zu bezeichnen. Die Region gilt als größtes Freiluftlabor der Welt. Viele Forschergruppen reisen in das Sperrgebiet, um herauszufinden, wie sich radioaktive Strahlung auf ein Ökosystem auswirkt. Nun möchte die ukrainische Regierung das Gebiet noch stärker für den Tourismus zugänglich machen.

Geisterstadt Pripyat
Geisterstadt Pripyat von Yves Alarie auf Unsplash

Vor der Corona-Pandemie waren es bis zu 2.000 Touristen am Tag, die die Sperrzone erkundeten. Zukünftig möchte man rund eine Million Besucher pro Jahr in das Gebiet rund um Tschernobyl locken. Ein Ort, an dem in Folge menschlichen Versagens viele Menschen starben.

Untersuchungen und Berichten unterschiedlicher Organisationen zufolge sind es weniger als 100 Todesfälle, die unmittelbar auf den Reaktorunfall zurückzuführen sind. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält insgesamt weltweit ca. 4.000 Todesopfer vor allem durch Krebserkrankungen für möglich. Die New York Academy of Sciences geht in einem 2018 veröffentlichten Bericht davon aus, dass 985.000 Menschen in Folge der durch die Nuklearkatastrophe freigesetzten radioaktiven Strahlung frühzeitig starben, darunter auch viele der von der sowjetischen Regierung eingesetzten 600.000 bis 800.000 Liquidatoren. 500.000 Menschen verloren zudem ihre Heimat und musste umgesiedelt werden.

Die staatliche Tourismusbehörde der Ukraine erklärt die Sperrzone zur Booming-Region: „So let’s start planning your unforgettable journey to Chornobyl“, wie es auf der offiziellen Tourismus-Website (ukraine.ua) der Ukraine heißt. Dark Tourism, also Katastrophentourismus, gibt es nicht erst seit der Netflix-Dokumentationsreihe „Dark Tourist“. Ob Katakomben von Paris, Oradour sur Glane, Hiroshima oder Pompeji – Schauplätze von Katastrophen, Kriegen und Verbrechen haben von je her Menschen angezogen. Die Faszination am Schrecklichen wird angetrieben von einer Mixtur aus Nervenkitzel, Sensationslust und dem Wunsch nach geschichtlicher Aufklärung. Die vom US-Sender HBO erstmals 2019 ausgestrahlte Miniserie „Chernobyl“ hat das Interesse an der Sperrzone vollends entfacht. Schon gibt es Befürchtungen, dass sich Pripyat zu einer Art Katastrophen-Disneyland entwickeln könnte.

Die ukrainische Regierung ist jedenfalls sehr aktiv, wenn es darum geht die Aufmerksamkeit für die Region zu steigern. Einige Bereiche der Sperrzone sollen, so das Ziel, zum Weltkulturerbe gemacht werden. Um die Wiedererschließung der Sperrzone auch visuell zu begleiten, wurde nun ein Markenauftritt lanciert. Speziell wie der Ort ist auch das Logo.

Tschernobyl Tourism Logo 1986–2064
Tschernobyl Tourism Logo 1986–2064, Quelle: Banda

Das von der in Kiew ansässigen Agentur Banda entworfene Logo unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von denen für Tourismus-Destinationen, farblich und konzeptionell. Wie auch die Sperrzone gewiss kein gewöhnliches Reiseziel darstellt. Mit jedem Jahr ändert sich die Form des Logos, nimmt der Anteil schwarzer Farbe und die Intensität des strahlenförmigen Zeichens ab, bis es sich schließlich ganz auflöst. 78 Logovarianten sind so entstanden (Abb. oben). Als Basis dient dabei die achteckige Form des explodierten Kernreaktors (Abb. unten).

Tschernobyl – Achteckige Form des Kernreaktors
Tschernobyl – Achteckige Form des Kernreaktors, Quelle: Banda

Von Seiten der Agentur Banda heißt es, man habe ein Zeichen schaffen wollen, das zum Nachdenken anregt. Einst lebendige Orte und Städte drohten im Laufe der Zeit zu verschwinden. Immer stärker breite sich die Natur innerhalb der Sperrzone aus und absorbiere regelrecht Städte wie Pripyat. Ein statisches Logo würde der Geschichte dieses Ortes nicht gerecht, so Banda. So ist ein Logo entstanden, das mit der Zeit verschwindet und das auf diese Weise zum Symbol wider des Vergessens werden solle.

Mediengalerie

Weiterführende Links

  • https://chornobyl.today/

Dieser Beitrag hat 9 Kommentare

  1. Mich erinnert die Achteck-Form mehr an ein Stoppschild – das Sperrgebiet 1986 wird durchlässiger. Aus meiner Sicht eine großartige Idee – ob die Umsetzung so wirklich funktioniert, wird sich zeigen.

  2. Einerseits ist die Idee mit dem sich veränderten Logo großartig.
    Andererseits wird die Strahlung nicht im Ansatz so schnell verschwinden und könnte verharmlosend aufgefasst werden…

  3. Finde die Design-Idee ansich auch sehr gut, keine Frage. Gleichzeitig habe ich zwei Kritikpunkte.

    1. Wer traute sich mit 2064 eine Marke zu setzen, die keiner Logik entspricht? Wir sprechen beim Abbau von radioaktiver Stahlung von Jahrhunderten/Jahrtausenden. Was sind die Anhaltspunkte für genau dieses Jahr? Die Tatsache, dass die Strahlenbelastung bereits heute innerhalb eines kurzen Zeitraums vertretbar für Besucher ist, möchte ich nicht abstreiten. (Dies ist am Reaktor natürlich in erster Linie dem neuen Sarkophag zu verdanken!) Denn wie Ruben bereits schrieb, kommt es auch mir etwas verharmlosend vor… Zumindest in anbetracht des Ausmaßes der Katastrophe und in Hinblick auf die in Wirklichkeit unglaublich langsame Zersetzung von Radioaktivität. Als Lockmittel für Touristen nachvollziehbar, jedoch nicht wissenschaftlich zu betrachten.

    2. Sollte die Marke tatsächlich vorsorglich für jedes Jahr neu angewendet werden, stellt sich nur die Frage, wie lange man das durchziehen wird? Es ist schon ein bahnbrechender Schritt, ein Markendesign für mehr als 40 Jahre in die Zukunft festzulegen oder zu planen. Ich bezweifle, dass dies ohne Weiteres so durchgezogen werden kann/wird… Oder ist dieses Design tatsächlich nur aktuell zu betrachten und könnte in wenigen Jahren wieder eingestampft werden?

      1. Danke für die Info. Wenngleich auch diese Zeitplanung nur eine Schätzung sein dürfte. Laut ausführlichen Dokumentationen über den 2019 fertiggestellten aktuellen Sarkophag, welcher ferngesteuerte Abbau-Maschinen (Kräne/Roboter) beinhaltet, laufen die Abbauarbeiten bereits jetzt und nicht erst 2064. Es fehlte also ein “bis” in Deiner Aussage. ;-) Das läuft zumindest solange es keine technischen Probleme, Ausfälle der Technik oder unerwartete Komplikationen gibt. Von daher: Löblich gestecktes Ziel, aber fern ab der Planungssicherheit.

  4. Super interessantes Logo, mehr kann ich dazu noch garnicht sagen.
    Bei so einem schwierigen wie auch interessanten und ungewöhnlichen Thema hätte ich mich über eine Einschätzung von Achim sehr gefreut, die mir in diesem Blogbeitrag fehlt!

    1. Mir geht es ähnlich wie Dir Gerrit. Ich finde das Thema insgesamt super spannend und das ungewöhnliche Gestaltungskonzept beim Logo interessant. Mein erster Gedanke war, als ich auf das Thema stieß, in wie weit das gewissermaßen sich in Luft auflösende Logo realitätsnah ist bzw. der Propaganda dient. Denn auch wenn, wie in den Kommentaren richtigerweise angemerkt, die vier Reaktoren bis 2064 zerlegt sein sollen, wird die Problematik der Kontamination durch radioaktive Stoffe dann aller Voraussicht nicht aus der Welt sein. Das Logokonzept suggeriert dies jedoch. Damit steht es freilich bei weitem nicht alleine, denn gerade Tourismus- und Destinationslogos, aber auch viele andere Logos, geben über ihre Form ein Versprechen ab, suggerieren womöglich etwas, was in dieser überhöhten, teils idealisierten Darstellung nicht existiert. Stets geht es darum, ein gewisses Image zu befördern, die Wahrnehmung eines Ortes, einer Marke oder einer anderen Entität in bestimmte Bahnen zu lenken. In diesem Fall wird diese Intention besonders deutlich. Es soll der Eindruck vermittelt werden: „Wir haben alles unter Kontrolle. Risiken werden immer geringer“. Und das Design dient dem Ziel, die Wahrnehmung in exakt diese Bahnen zu lenken.

      Die ukrainische Regierung hat ein elementares Interesse daran, dass Atomkraft als gefahrenlos angesehen wird, was sie nicht ist. Auch 35 Jahren nach der Katastrophe setzt die Regierung vor allem auf Atomkraft als Energiequelle (50–55% der Stromerzeugung). Grundsätzlich sollte jedes Branding, jedes Corporate Design und jedes visuelles Erscheinungsbild hinterfragt werden. Nach dem Motto: Augen auf und Kopf einschalten. Und das gilt für jede staatlich gewollte Marke in besonderem Maße.

Schreibe einen Kommentar

Die Netiquette ist zu beachten. Vor dem Hintergrund einer transparenten, sachlich-fairen Debatte wird die Nutzung eines Klarnamens empfohlen.

Folgende HTML-Elemente können verwendet werden: <b> <i> <img src="bildurl"> <a> <blockquote>

An den Anfang scrollen