Der Krieg in der Ukraine, das sehen wir aktuell alle, wenn wir auf Twitter, Facebook, Instagram, YouTube, TikTok etc. unterwegs sind oder Nachrichtensendungen im Fernsehen verfolgen, ist auch ein Informationskrieg. Ein vom ukrainischen Verteidigungsministerium in den letzten Tagen im Stile eines Plakates gestalteter Aufruf sticht hierbei heraus, auch formal-ästhetisch.
Kriege sind immer auch eine von beiden Seiten geführte Informations- und Propagandaschlacht, in denen Bilder, Texte, Video, Töne und Durchsagen zum Einsatz kommen. Während des Zweiten Weltkrieges wurden etwa, im Versuch, den Feind von der Sinnlosigkeit des Weiterkämpfens zu überzeugen, über 20 Milliarden Flugblätter über Europa abgeworfen. Derlei Flugblätter sind zeitgeschichtliche Dokumente und als solche Teil der Sammlung vieler Museen, so auch des Deutschen Historischen Museums (Berlin). Propaganda beschreibt die systematische Verbreitung von Desinformation und Meinungsmache, verbunden mit anderen Formen staatlicher Informationskontrolle wie direkter Zensur, Monopolisierung der Medien oder Verfolgung Andersdenkender.
Auf vielen historischen Flugblättern greift als rhetorisches Stilmittel die direkte Ansprache an gegnerische Soldaten (siehe Beispiele unten). Ein Kommunikationsinstrument, dessen Einsatz nun erstmals auch im Zuge des von Russland geführten Angriffskrieges auf die Ukraine zu beobachten ist. Auf einem hochformatigen und im Stile eines Plakates gestalteten Mediums hat sich die ukrainische Regierung direkt und in kyrillischer Schrift an russische Soldaten gewandt.
Russischen Soldaten wird über das ukrainische Verteidigungsministerium zugesichert, ihnen würde Amnestie gewährt und sie bekämen 5 Millionen Rubel, wenn sie ihre Waffen niederlegen und von einem Angriff absehen. Nach aktuellen Stand sind dies umgerechnet 41.000 Euro. In dem in Großbuchstaben gesetzten Text heißt es: „Kommen Sie mit weißer Flagge raus und erhalten Sie Amnestie und 5.000.000 Rubel für Technik und Waffe!“ (Quelle: Google Übersetzung).
Zur Einordnung: der Grundsold eines russischen Gefreiten lag im Juni 2020 bei 23.400 Rubel. Damals waren dies umgerechnet etwa 300 Euro. Nach den von vielen Staaten gegen Russland verhängten Sanktionen Ende Februar sind es nun weniger als 190 Euro, die ein Gefreiter erhält, Tendenz fallend. Man könnte annehmen, dass dies also für viele russische Soldaten ein finanziell höchst verlockendes Angebot sein sollte.
Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksii Reznikov hat diese Grafik, die ich bereits heute als ein Dokument von zeitgeschichtlicher Bedeutung einstufen würde, auf Facebook veröffentlicht (Screenshot). Ein digitales Medium also, vorerst. Militärexperten, die zur derzeitigen Situation in der Ukraine befragt wurden, erklärten, sie gingen davon aus, dass die meisten russischen Soldaten in der Ukraine weder Zugang zum Internet hätten, noch unabhängig und objektiv berichtendene Medien verfolgen könnten, so sie denn überhaupt ein Smartphone im Einsatz mitführten. Berichte über SMS-Nachrichten eines russischen Soldaten an seine Mutter, in denen er erklärt, ihnen sei (von ihren Vorgesetzten) gesagt worden, man würde sie auf ukrainischem Boden willkommen heißen, scheinen diese Einschätzung zu stützen.
Man stelle sich vor, dieser Aufruf der ukrainischen Regierung würde als Plakat tausendfach im Land aufgehängt werden, auch entlang der Strecke, auf der sich aktuell der kilometerlange russische Militärkonvoi befindet. Form und Gestaltung des Visuals ließen einen solchen Einsatz durchaus zu, ja mehr noch. In wesentlichen Punkten entspricht der rein typographisch aufbereitete Aufruf in seiner Stilistik typischer (politischer) Plakatgestaltung: eine auf nur wenige Wörter verdichtete Botschaft, die auch aus größerer Distanz leicht zu erfassen ist. Die Gestaltung ist prägnant und handwerklich wie auch formal-ästhetisch gekonnt. Die ukrainische Absenderschaft ist zudem auf dem Medium eindeutig zu erkennen. Könnte eine solche Kampagne tatsächlich die Moral innerhalb der russischen Armee zersetzen und Soldaten zur Desertation bewegen? Können Plakate an Laternen und Hausfassaden wirkungsvoller sein als Panzerabwehrwaffen? Man möchte es nur zu gerne glauben, dass sich mit dieser Art des Guerilla-Marketings der Krieg beenden lässt.
Der Grat zwischen Information und Propaganda ist schmal. Der Vietnam-Krieg wird gemeinhin als der erste „living room war“ bezeichnet. Journalisten berichteten seinerzeit direkt aus den Kriegsgebieten, wodurch das Gefühl unmittelbarer Nähe in die Wohnzimmer der US-Amerikaner getragen wurde. Auch im Irak-Krieg und in anderen Regionen, wo US-Truppen am Boden gekämpft haben, war Embedded Journalism ein strategisches Kommunikationsinstrument. Eine objektive Berichterstattung im pressefreiheitlichen Sinne ist im Rahmen einer solchen Operation schwierig bis unmöglich, was nicht heißen soll, dass diese nicht auch wertvoll sein kann. Nur objektiv kann sie nicht sein.
Heute sind es nicht die Beiträge in Zeitungen und im Fernsehen, sondern vor allem im Umfeld von Social Media platzierte Beiträge, Kurznachrichten und oftmals ungeprüfte Medien, die in Kriegszeiten stark das Meinungsbild in einer Gesellschaft prägen. Meinungsbild und Meinungslenkung sind in der Werbung wie auch in der Propaganda, insbesondere in der politischen, eng miteinander verbunden. Welche Beiträge einem im Social-Feed angezeigt werden, bestimmen die von Unternehmen wie Facebook und Google entwickelten Algorithmen, unterliegt der eigenen „Filterblase“, und ist nicht zuletzt von gesetzlichen Vorgaben respektive Einschränkungen seitens des jeweiligen Staates abhängig, in dem man sich befindet. Sich ein objektives Bild von der Lage zu verschaffen, mag heutzutage vielleicht leichter erscheinen. Jedoch selbst für entsprechend geschulte Menschen sind Fakten und Fake News in solch einem Medien- und Informationskrieg, nicht immer auf Anhieb von einander zu unterscheiden. Die Psychologin Pia Lamberty gibt auf Twitter Tipps, wie sich Fake News von Fakten unterscheiden lassen und was es beim Teilen von Beiträgen zu beachten gilt:
Der russische Krieg gegen die Ukraine zeigt sich auch in den Sozialen Netzwerken. Ich habe deswegen versucht, einige Tipps zusammen zu stellen, worauf man aus meiner Sicht gerade achten sollte. Ein 🧵
– Pia Lamberty (@pia_lamberty) February 25, 2022
Der Social Post ist heute, was im Zweiten Weltkrieg das Flugblatt war. Auch dies beschreibt eine Zeitenwende. Kriege werden nicht mehr nur zu Lande, zu Wasser und in der Luft geführt. Kriege finden seit Jahren auch über digitale Kanäle statt, wie etwa auch die vom Hacker-Kollektiv Anonymous in den letzten Tagen auf russische Staatsmedien und Regierungsstellen verübten Angriffe zeigen. Auch wenn es aus unserer westlichen Perspektive vielleicht so anmuten mag, als würden dabei die Richtigen getroffen, sind derlei Attacken ebenfalls brandgefährlich.
Die ukrainische Regierung, allen voran Präsident Wolodymyr Selenskyj, hat in den vergangenen Tagen gezeigt, dass sie die Medien, und zwar das gesamte Spektrum, außerordentlich gut für sich zu nutzen weiß. Das 5.000.000-Rubel-Motiv steht hierfür exemplarisch und ist darüber hinaus ein herausstechendes Beleg. Ein solches Visual inmitten der Kriegswirren anzufertigen, ist erstaunlich, und zwar in jeder Hinsicht, konzeptionell, sprachlich wie gestalterisch, auch weil das damit einhergehende Angebot Einfühlungsvermögen voraussetzt, in der Fachsprache als Theory of Mind (ToM) bezeichnet. Gleichwohl lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen, ob das Angebot tatsächlich auch jemals in dieser Form umgesetzt werden würde, sollten russische Soldaten mit weißer Fahne in der Hand ihre Waffen an die Ukraine übergeben. Es wäre zu schön zu sehen, wenn sieben Zeilen linksbündig gesetzter Text diese Wirkung entfachen könnten, frei nach Edward Bulwer-Lytton: das Wort ist mächtiger als das Schwert.
Ein ausgezeichneter Artikel, der die “Medienschlacht” hinter den Schlachtfeldern hervorragend beschreibt uns analysiert.
Es könnte die Frage gestellt werden, wer eigentlich als Adressat des „Plakates“ gedacht ist.
Vielen Dank für den interessanten Artikel.
Und Deine Einschätzung dazu wäre?
Ein sehr guter Artikel. Aber wer ist der/die AutorIn?
Vielen Dank. Ich bin der Autor.
(Die Autorenschaft war bis zum Relaunch Anfang des Jahres auch direkt an jedem Beitrag ersichtlich. Das ist auch nun wieder der Fall. Soeben geändert.)
Dieser Artikel erklärt Laien sehr gut wie “Psychologische Kriegs-, bzw. Verteidigungsführung” funktioniert.
Im 2.WW hießen die Kompanien PSK=Psychologische Kriegsführung, in der Bundeswehr anfangs PSV=Psychologische Verteidigung, jetzt OpInf, bzw. OpKom.. Ausgestattet mit Druckereizug, Lautsprecher- und Ballonkompanien.
Besten Dank für die Ergänzung!
Nach der beispiellosen Sanktionierung Russlands durch die EU, USA, Japan und vielen anderen Staaten sind 5.000.000 Rubel am heutigen Tag statt 41.000 Euro nur noch 30.000 Euro wert.
Rubel – Euro, Quelle: Google