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Zwischenfazit Schriftarten: Es gibt Wichtigeres zu diskutieren

Anstelle eines ausufernden Fazits sei an dieser Stelle eine kleine These zum Weiterdiskutieren platziert. Sie lautet: Die Welt der Schriftzeichen ist so spannend, so reizvoll, aber auch so polarisierend, dass es Typografen seit Jahrzehnten offenbar schwer fällt anzuerkennen, dass Gebrauchsschriften kaum wissenschaftlich objektivierbar sind. Darum halten sich Legenden wie “Auf dem Papier serif, auf dem Monitor sans serif” auch so hartnäckig – weil sie kurz sind, gut zu merken, und weil sie Halt geben in jenen Debatten mit Kunden, denen Meta-Diskussionen über Strichstärken, Themenadäquatheit und Gestehungsepochen nichts gelten. Aus dem selben Grund, so behaupte ich ferner, wird besagte Legende auch vermeintlich immer wahrer, nur weil sie ständig ein Autor vom anderen abschreibt. Denn wer verfasst schon gerne ein Lehrbuch, am besten eines für “Dummies”, und entwertet sein Dozententum durch die windelweiche Aussage: “Nehmt einfach die Schrift, die ihr für die angemessenste haltet”? Lehrbuch-Leser wünschen Kochrezepte. Und keine Aufforderung, sich näher mit Typografie zu befassen.

SCHRIFTARTEN – IM URTEIL DER LESER

Was also folgern wir aus diesem ersten Datensatz? Ist es am Ende tatsächlich unerheblich, welche Schriftarten wir verwenden im Web? Durchaus nicht – wenn man als Maßstab nicht „physische” Textqualitäten anlegt, sondern die Subjektivität des Betrachter-Urteils. Und dies taten wir: Wir legten den Teilnehmern des Experiments, nachdem diese ihre acht Stolperwörter gefunden hatten, jeweils zwei identische Texte in unterschiedlichen Schriftarten vor, und fragten: Welche dieser beiden Schriftarten halten Sie für besser lesbar?

Jeder elfte hält zur “Times”

Und an dieser Stelle war’s vorbei mit den Minimal-Unterschieden aus der Geschwindigkeits-Messung. 91 % der Probanden entschieden beispielsweise: die “Verdana” ist im direkten Vergleich mit der “Times” die besser lesbare Type (die “Times” – Mathematiker ahnen es bereits – hielten nur 9 % für besser lesbar in diesem spezifischen Duell).

Insgesamt kombinierten wir im Experiment jede Schriftart mit jeder der elf anderen 57 Mal, schickten also jede Schriftart in insgesamt 627 Vergleiche und fragten immer nach der jeweils besseren der beiden dargebotenen Schriftarten (Empiriker nennen so etwas “Dominanzpaarvergleich”). Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, jede einzelne diese Gegenüberstellungen im Detail nachzuzeichnen. Ich werde mich auf die Gesamt-Voten pro Schriftart beschränken – und allein diese Daten sind interessant genug. Zumal im übrigen keine Divergenzen festzustellen waren zwischen Frauen und Männern, Alten und Jungen: Was die Geschmacks-Fragen im Experiment anging, stellten wir weder einen Generationen- noch einen Geschlechterkonflikt fest. Vor der Typografie sind tatsächlich alle gleich, so scheint es.

Welche Schriftart ist besser lesbar?

Auf die Frage, welche Schriftart sie für die “besser lesbare” hielten, votierten 80 Prozent der Teilnehmer – egal, mit welcher anderen Schriftart gerade verglichen wurde – für die “Verdana”. In 74 Prozent der Fälle hatte die “Trebuchet” die Nase vorn und landete damit auf Platz zwei der “subjektiven” Lesbarkeits-Skala.

Schon auf den ersten Blick ist dieses Ergebnis interessant. Denn “Verdana”-dominierte Seiten finden sich im Web zwar wie Sand am Meer, die “Trebuchet” allerdings hat nach meiner Beobachtung erheblich an Präsenz verloren in den vergangenen Jahren im deutschsprachigen Web. Nur teilweise zutreffend scheint mithin die verbreitete These, dass Leser vor allem Gewohntes mögten, dass sie auch im Schriftbild Bewährtes vorzögen. Zumal auf Platz drei der vermeintlich “bestlesbaren” Schriftarten die “Segoe” landete, ein völlig neuer Font also, der im massenhaften Webgebrauch des Jahres 2009 so gut wie keine Rolle spielen und den meisten Teilnehmern unbekannt gewesen sein dürfte – angesichts der Marktdurchdringung von dünnen 4 %, die Windows Vista zum Zeitpunkt der Studie erreicht hatte.

Was schließen wir aus diesen Daten? Zunächst vor allem: die “objektive”, physisch messbare Lesbarkeit einer Schriftart muss keineswegs korrespondieren mit ihrer “subjektiven” Lesbarkeit, der Qualität also, die Leser dieser Schriftart zuerkennen. Im Gegenteil.

Die hochspannende Frage, die sich aus diesen Daten ergibt: Wieviele Sympathien, ja Vorschusslorbeeren ernten wir potenziell, wenn wir unsere Seiten gemäß dieser Erkenntnisse ausstatten? Oder, anders herum gefragt: Verlieren wir Leser, wenn wir eine – offenkundig – schlecht beleumundete “Georgia” verwenden, jene Schriftart also, die ja objektiv keineswegs schlechter lesbar ist als die elf anderen? Wieviel Wert sollten wir also der “gefühlten” Lesbarkeit zumessen?

Ich möchte empfehlen: sehr viel. Denn was wir kommunizieren auf einer Website, ist zuallererst das Bildmaterial – und dann das Schriftbild. Diese Ersteindrücke wirken in der Regel, bevor das erste Wort gelesen ist. Genauer gesagt: Die Schriftform ist ein Initial-Impuls jedes Mediums, sie formt das allererste Konzept entscheidend mit, das sich Betrachter von einer Gestaltung bilden – und damit potenziell von der Wertigkeit des Auftritts insgesamt. Wie wichtig dieser erste Impuls ist für Leseerfolg und Lesertreue, ist sicherlich schwer einzuschätzen und mindestens ebenso schwer empirisch greifbar – und deswegen in seiner Relevanz kaum einzustufen. Dass er aber Bedeutung besitzt, dieser Primär-Stimulus des Schriftbildes, steht für mich außer Frage. Er gehört auf die Agenda jedes Gestaltungsprozesses.

Welche Schriftart ist attraktiver?

Dem Paarvergleich zur Lesbarkeit schlossen sich noch elf weitere an im Experiment. Frage 2 lautete dabei: Welche Schriftart halten Sie für attraktiver?

Insgesamt fielen die Ergebnisse weniger eindeutig aus als die zur Ausgangsfrage. Ganz großzügig formuliert: es war in der Spitze ein totes Rennen. Denn im Urteil der Versuchsteilnehmer lagen fünf Schriftarten praktisch auf Augenhöhe, was das Werturteil über ihre “Attraktivität” anging: “Arial” vorneweg, “Cambria” knapp dahinter, “Verdana”, “Trebuchet” und “Segoe” wiederum um eine Maul-Länge zurück. Es ist bemerkenswert, dass unter diesen Top 5 zwei völlig neue, damit uneingeführte, und eine zwar ältere, aber aktuell wenig benutzte Schriftart landeten. Ein weiteres Argument gegen den Leser als visuelles Gewohnheitstier! Dass die “Times” wiederum ziemlich weit hinten landete, bestätigt ebenfalls die These: ordentliche objektive “Lesbarkeit” muss offenkundig keinen Einsatz rechtfertigen.

Welche Schriftart wirkt seriöser?

Auf diese Frage fielen die Urteile wieder erheblich eindeutiger aus. Und auch die Ergebnisse dieser Frage sprechen recht eindeutig gegen die “Gewohnheits-These”. Denn auf die etablierte Web-Type “Arial” (68 %) folgten in dieser Frage-Runde die Vista-Fonts “Cambria” (63 %) und “Segoe” (60 %).

Welche Schriftart wirkt moderner?

Diese Runde ging zum Teil an die Vista-Schöpfer: als “modernste” Schrift betrachteten unsere Teilnehmer die Vista-Systemschriftart “Segoe” (65 %). Ein später Erfolg für Adrian Frutiger, sollte man meinen, jenen genialen Schweizer Schriftschöpfer, der die “Frutiger” immerhin vor über 30 Jahren zeichnete! Es folgen allerdings vier sehr etablierte Web-Schriftarten – und die (vermeintlich moderne) “C-Reihe” bekleckerte sich in dieser Frage durchweg nicht mit Ruhm.

Welche Schriftart ist eleganter?

Bis auf den Spitzenreiter waren sich die Versuchsteilnehmer in dieser Frage recht uneins. Die Runde ging ziemlich eindeutig an die Serifenschriftart “Cambria” (63 %); dahinter waren allerdings keine klaren Favoriten auszumachen.

Welche Schriftart ist dynamischer?

Hier hatten die eingeführten Web-Schriftarten klar die Nase vorn: “Arial” (62 %) vor “Verdana” (57 %) und “Trebuchet” (56 %). Allerdings fiel auch dieser Vergleich relativ knapp aus: Ein klares Publikumsvotum ist – abgesehen von Spitzenreiter “Arial” und den abgeschlagenen Serifenvertretern “Georgia”, “Times” und “Contantia” – nicht erkennbar.

Welche Schriftart passt besser zum Thema …

Abschließend fragten wir unsere Versuchsteilnehmer, welche Schriftarten besonders gut zu bestimmten klassischen Berichtsressorts passten. Ich will die Ergebnisse hier nicht in Gänze breit treten, zumal sich längst nicht in allen Vergleichen eindeutige Ressort-Favoriten herauskristallisierten.

Interessant aber ist durchaus, dass die “ernsten” Themenkomplexe “Politik” und “Kultur” anscheinend immer noch sehr stark mit klassisch geschnittener Typografie in Verbindung gebracht werden auf Konsumentenseite – bei keiner anderen Frage belegten serifentragende Schriftarten alle drei “Stockerl-Plätze”. Ich räume ein, dass diese Ergebnisse die Gewohnheits-Theorie durchaus stützen – Lesende erwarten in bestimmten Ressorts offenbar durchaus bestimmte Typen. Oder halten sie zumindest für themenadäquater.

Zwischenfazit Schriftarten, Teil 2

Vielleicht ist es geboten, dass ich mich bei den Serifen-Gegnern entschuldige. Zumindest teilweise. Denn, jawohl: Serifentragende Schriften sollte man im Web offenkundig wirklich zumindest mit ein wenig mehr Bedacht einsetzen als Groteske. Aber nicht, weil sie “schlechter lesbar” wären, wie die Ratgeber sagen. Oder, weil ihre Serifen so verkrüppelten am Monitor. Sondern schlicht und ergreifend, weil sie tendenziell eher unbeliebt sind in der Leserschaft. Weil die Konsumenten zumindest aufs Ganze betrachtet anscheinend eher Groteske vorziehen.

Dies freilich ändert nichts an meiner Ausgangsthese. Denn: Aus der Unbeliebtheits-Erkenntnis heraus doch wieder flächendeckend auf “Verdana” zu setzen, führt zu nichts. Beziehungsweise: zu nichts Gutem. Gerade im Bereich der schwereren Kost – Politik und Kultur – genießen Serifen augenscheinlich ungebrochene Akzeptanz, auch im Web, sie vermitteln Seriosität und Glaubwürdigkeit. Nehmen wir dann noch meinen Ausgangs-Appell hinzu, dass Web-Typografie endlich auch auf jene typografische Vielfalt hinstreben sollte, die gute Print-Typografie seit Jahrhunderten auszeichnet – so sind wir wieder bei meiner bescheidenen Start-Bitte angelangt: Schöpfen wir die dürre Vielfalt der Web-Schriftarten besser aus, als dies bislang geschieht! Und Vielfalt definiert sich über Kontrast. Zum Beispiel und vor allem: zwischen Groteske und Serife.

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